ESC 2015: Beim Publikum hat Italien gewonnen

Es war eine turbulente Nacht beim Eurovision Song Contest in Wien – und am Ende hieß der Sieger Schweden. Doch hätte allein das Publikum entschieden, wäre der Schwede Måns Zelmerlöw nur Dritter geworden. Platz zwei wäre an Russland gegangen – der Sieg aber an die drei Tenöre Il Volo aus Italien.

Viele ESC-Zuschauer wissen gar nicht, dass ihre Stimme nur zu 50 Prozent in die Wertung einfließt. Über die anderen 50 Prozent entscheidet eine fünfköpfige Jury, meist besetzt mit Musikexperten. In der deutschen Jury saß unter anderem Ferris MC von Deichkind. Solange Jury und Publikum ähnlich urteilen, hat das kaum Auswirkungen auf die Wertung. Sobald aber die Meinungen stark auseinandergehen, kann das passieren, was nun in Wien zu beobachten war: Italien, der klare Sieger des Televotes, geht leer aus.

ESC 2015 Saeulen Hätte allein das Publikumsvote gezählt, wäre Italien mit 365 Punkten unangefochten auf Platz 1 gelandet. Die folgenden Plätze wären an Russland (286 Punkte) und Schweden gegangen (272). Bei der offiziellen Gesamtpunktzahl hingegen ergab sich die bekannte Reihenfolge Schweden (365), Russland (303) und erst als Dritter Italien mit 292 Punkten.

Den Berechnungen hier liegt der übliche ESC-Modus zugrunde: Jedes der 40 Länder vergibt insgesamt 58 Punkte, der Erstplatzierte bekommt 12 Punkte, der zweite 10, der dritte 8, der vierte 7, … und der zehnte 1 Punkt.

Der Schwede Måns Zelmerlöw bekam den Grand Prix nur deshalb, weil er von den Experten aus den Jurys so hoch bewertet wurde. Die Details können Sie dem Diagramm oben und der folgenden Tabelle entnehmen:

ESC 2015 TabelleIm Vorjahr hatte bekanntlich Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewonnen – mit 290 Punkten. Der Sieg des Travestiekünstlers wäre aber noch viel deutlicher ausgefallen, hätten allein die Stimmen des Publikums gezählt – mehr dazu in meinem Text von vor einem Jahr. Immerhin wurde Conchita von den Jurys 2014 nicht um den Sieg gebracht. Denn auch bei ihnen lag Österreich ganz vorn, allerdings nur knapp.

Bei den drei Tenören von Il Volo aus Italien war das anders. Im Urteil der Jurys kam Italien insgesamt nur auf Rang 6 – und hatte so keine Chance, den Grand Prix zu gewinnen.

Wie unterschiedlich Publikum und Jury urteilten, zeigen die Beispiele Frankreich und Deutschland. Die Jury unseres Nachbarlandes wählte Il Volo auf Rang 15, die deutsche Jury sogar nur auf Rang 18. In beiden Fällen gleichbedeutend mit 0 Punkten, wenn die Juryentscheidung in Punkte ungerechnet worden wären.

Beim französischen und deutschen Televote kam Italien hingegen auf Platz 1, was 12 Punkten entspräche. Die offizielle Punktzahl wird wie folgt berechnet: Der Rang von Jury und der Rang Televote werden addiert. Das Land mit der niedrigsten Summe bekommt 12 Punkte, das zweite 10 und so weiter. So können sehr niedriger Rang und ein hoher Rang zusammen einen mittleren bis niedrigen Gesamtrang ergeben. Aus Deutschland bekam das italienische Trio schließlich nur 3 Punkte, aus Frankreich 6.

Vielleicht ein kleiner Trost für Deutschland: Bei den Jurys hätte die deutsche Sängerin Ann Sophie immerhin 24 Punkte eingeheimst – nur in der Gesamtwertung ging sie leer aus (0 Punkte).

Wer gern mit den ESC-Punkten spielen will: Hier ist die Datei ESC-2015-grand_final-full_results_holger mit den vollständigen Daten.

Wer hat eigentlich den ESC 2014 entschieden?

Conchita Wurst hat den Eurovision Song Contest gewonnen. Der Travestiekünstler aus Österreich mit dem bürgerlichen Namen Tom Neuwirth bekam 290 Punkte. Platz 2 und 3 gingen an die The Common Linnets aus den Niederlanden (238 Punkte) und Sanna Nielsen aus Schweden (218 Punkte). Aber war das wirklich so ein klarer Sieg, wie ihn die Punktabstände suggerieren?

Viele Zuschauer wissen gar nicht, dass die Stimmvergabe eines Landes nur zum Teil übers Telefonvoting entschieden wird. In fast allen Ländern entscheidet eine fünfköpfige Jury mit – ihr Urteil und das Televote ergeben dann mit einer Gewichtung von je 50 Prozent das Gesamtvorting. Der ESC ist, wenn man so will, eine Mischung aus Demokratie und Expertokratie, denn die Jurys werden mit Vertretern aus der Musikbranche besetzt.

Natürlich sind Volkes Stimme und die Experten nicht immer einer Meinung. Beispiel Deutschland: Die Jury, in der unter anderem Jennifer Weist von der Band Jennifer Rostock und der Rapper Sido saßen, war von Conchita Wurst nur mäßig angetan. Im gemeinsamen Ranking der fünf Branchenvertreter kam sie nur auf Platz 11. Beim deutschen Televoting hingegen holte Conchita Wurst Platz 1. Beide Votes zusammen ergeben Platz 4 und damit 7 Punkte.

Da liegt natürlich die Frage nah: Wo hat Conchita Wurst eigentlich die meisten Unterstützer? Bei den Anrufern oder bei den Juryexperten? Und wie wäre der ESC ausgegangen, wenn allein das Televoting gezählt hätte? Und für wen hätten sich die Branchenvertreter aus den Jurys gemeinsam entschieden?

Die Ranglisten der Jurys und Telefonvotes sind auf der englischsprachigen ESC-Webseite komplett abrufbar – das Ganze lässt sich also leicht in Excel ausrechnen. Und das habe ich getan! 26 Titel waren im ESC-Finale, 37 Länder haben die Punkte vergeben. In Albanien und San Marino gab es kein Telefon-Vote, dort entschied allein eine Jury. In Georgien wiederum gab es nur ein Televoting. In den übrigen 34 Ländern entschieden Jury und Anrufer gemeinsam.

Den Berechnungen hier liegt der übliche ESC-Modus zugrunde: Jedes der 37 Länder vergibt insgesamt 58 Punkte, der Erstplatzierte bekommt 12 Punkte, der zweite 10, der dritte 8, der vierte 7, … und der zehnte 1 Punkt.

 

Hätten ausschließlich die Televotings beim ESC entschieden, wäre der Triumph von Conchita Wurst noch deutlicher ausgefallen. Sie hätte dann 306 Punkte erreicht – die Niederlande und Armenien würden mit 220 beziehungsweise 187 Punkte folgen. Schweden wäre auf Rang vier gelandet (173 Punkte) statt auf Platz 3 wie in der offiziellen Reihenfolge. Das gesamte Ranking finden Sie in der folgenden Tabelle (grüne Schrift):

ESC 2014

Hätten allein die Jurys über den ESC 2014 entschieden, wäre das Ergebnis zwar nicht anders, aber viel knapper ausgefallen – siehe rote Schrift. Österreich käme auf nur noch 214 Punkte, was aber immer noch für die Führung vor den Niederlanden (200 Punkte) und Schweden (199 Punkte) reicht.

Folgendes Diagramm zeigt die Platzierungen aus der Tabelle oben in Balkenform – nach den Modi Televote (grün), nur Jury rot) und Gesamt (grau). Gesamt entspricht der offiziellen ESC-Wertung. Die Länder sind nach dem Televote sortiert. Schön zu sehen ist, dass Länder wie Malta Aserbaidschan, Finnland und Norwegen zwar bei den Jurys gut punkteten – nicht aber bei den Anrufern.

ESC 2014 Punkte im Vergleich

Zum Schluss noch ein besonders spannender Blick auf die Punkte, die Österreich bekommen hat. Das Diagramm zeigt die von jedem Land an Österreich vergebenen Punkte in den Modi nur Jury und nur Televote (zum Vergrößern anklicken):

Conchita Wurst Jury vs. TelevoteBei vielen Ländern waren sich Anrufer und Experten weitgehend einig – die roten und blauen Balken sind ähnlich lang. Bei einem Drittel der Länder weicht Volkes Stimme jedoch deutlich vom Juryurteil ab – und zwar immer deutlich nach oben. Dazu gehören Portugal und Deutschland – aber auch viele ehemalige Ostblockstaaten wie Russland, Polen, Rumänien, Ungarn, Weißrussland und Polen.

Die eher geringe Toleranz in Osteuropa gegenüber Travestie und Homosexuellen spiegelt sich zwar im offiziellen Juryurteil wider – Österreich bekam dort kaum Punkte. Bei den Anrufern war Conchito Wurst hingegen populär. In Georgien und Armenien etwa holte sie  10 Punkte beim Televote, in Putins Russland immerhin 8 – von der Jury allein hätte das Lied keinen Punkt bekommen.

Vor diesem Hintergrund wirkt es besonders komisch, wenn nun russische Politiker vor dem Ende Europas warnen wie Wladimir Schirinowski. In Russland sammelte Conchita Wurst schließlich so viele Televotes ein, dass es auf Rang 3 (=8 Punkte) kam. Die namentlich bekannten russischen Jurymitglieder wählten Österreich auf Platz 11, weshalb es in der offiziellen russischen Gesamtwertung auf Platz 6 rutschte und nur 5 Punkte bekam.

Nachtrag: Wo die Fans „polnischer Folklore“ wohnen

Beim Spielen mit den Votes der Zuschauer und der Jurys ist mir noch das Kuriosium Polen aufgefallen. Ich fand den Beitrag „My Słowianie – We Are Slavic“ von Donatan und Cleo musikalisch eher dünn. Den Jury-Mitgliedern ging es offenbar ähnlich: Gerade mal in sechs Ländern schaffte er es im Expertenvote unter die Top-10 – und dabei auch nur auf die hinteren Ränge (blaue Balken im Diagramm unten). Die einzige Ausnahme bilden die deutschen Juroren, die Polen auf Platz 4 hievten, was 7 Punkten entsprechen würde, wenn allein das Voting der Jury über die Punkte entscheiden würde. (Diagramm zum Vergrößern anklicken)

ESC 2014 Polen

Ganz anders haben die Anrufer entschieden. In 12 Ländern schaffte es der polnische Song unter die ersten Top-3! Lag’s etwa an der üppigen Oberweite der Frau, die sich am Wäsche waschen mit der Hand versuchte? Hier die Länder, in denen Anrufer offenbar besonders auf „polnische Folklore“ stehen – sie liegen bis auf die Ukraine und Mazedonien sämtlich in Westeuropa:

Platz 1:
Ukraine, Irland, Norwegen, UK

Platz 2:
Island, Niederlande

Platz 3:
Deutschland, Italien, Österreich, Mazedonien, Frankreich, Schweden

Ähnlich auffällige Diskrepanzen gab es auch beim Beitrag aus der Schweiz. Das Lied punktete sehr oft bei den Zuschauern (rot), jedoch kaum bei den Jurys (blau).

ESC 2014 Schweiz

Wer einen Blick auf die Rohdaten werfen will – hier ist die Excel-Datei mit den Platzierungen aller Länder, aus denen sich die Punkte berechnen lassen: ESC 2014 Daten. Beim Juryurteil und dem Televote habe ich dem erstplatzierten Team 12 Punkte, dem zweiten 10, dem dritten 8, … und dem zehnten 1 Punkt gegeben. Zur Berechnung der offiziellen ESC-Wertung werden für jedes Land einzeln die Platzierungen von Jury und Televote addiert. Das Land mit der kleinsten Summe bekommt dann 12 Punkte, das mit der zweitkleinsten 10 und so weiter.  Ab Platz 11 gibt es 0 Punkte.

 

Nachgerechnet: Der wahre Sieger des ESC 2013

Jedes Jahr das Gleiche beim Eurovision Song Contest: seltsame Auftritte, noch seltsamere Kostüme und zum Schluss die Vetternwirtschaft bei der Punktvergabe. Mir kam es schon immer ungerecht vor, dass kleine Länder wie San Marino oder Dänemark genauso viele Punkte vergeben dürfen wie Deutschland oder Italien. Ist dieses System vielleicht sogar Schuld daran, dass gefühlt immer nur Skandinavier, Ex-Ostblock- oder Balkanländer gewinnen?

Ich habe das einfach mal ausgerechnet. Dabei bin ich davon ausgegangen, dass die Punkte jedes Landes nach dessen Einwohnerzahl gewichtet werden sollten. Größere Länder bekommen dadurch mehr Gewicht als kleinere. 39 Länder durften beim ESC 2013 abstimmen, die mittlere Einwohnerzahl dieser 39 Staaten liegt bei 17,8 Millionen. Die Gewichtung funktioniert so: Ein Land, das doppelt so viele Einwohner hat wie der Durchschnittswert von 17,8 Millionen, darf auch doppelt so viele Punkte vergeben. Aus ursprünglich 12 Punkten für den Erstplatzierten werden so 24, 10 Punkte werden zu 20 und so weiter.

Ein Land hingegen, das halb so viele Bewohner hat wie der Mittelwert, darf nur halb so viele Punkte vergeben. Also 6 statt 12 für den Erstplatzierten, 5 statt 10 für den Zweiten und 0,5 statt 1 für den mit den wenigsten Punkten. Die Gewichtung verändert die Verteilung der Punkte, weil Giganten wie Russland (142 Mio. Einwohner) plötzlich nicht nur 58 Punkte vergeben (58 = 12+10+8+7+6+5+4+3+2+1), sondern acht mal so viele, nämlich 464. Deutschland (81 Mio.) kommt so auf 264 Punkte. Die Gesamtmenge der von allen 39 Ländern vergebenen Punkte bleibt jedoch unverändert – es wird ja schließlich nur anders gewichtet.

Und wer ist nun der gewichtete ESC-Sieger 2013? Es bleibt bei Dänemark – und ich muss gestehen, das hat mich überrascht. Das Siegerlied holt gewichtet mit 312,4 sogar noch mehr Punkte als die 281 aus der regulären Abstimmung. Den zweiten Platz sichert sich wiederum Aserbaidschan – mit gewichtet 256,5 statt 234 Punkten. Auf Platz drei aber landet nach der Neuberechnung Griechenland, das übrigens auch mein Favorit war. In der offiziellen ESC-Ranglisten erreichte es nur Rang sieben.

Copyright der Grafiken: Holger Dambeck

Aber ist eine solche Gewichtung wirklich fairer? Die Vetternwirtschaft wird tatsächlich verringert, denn kleine Länder, die sich gegenseitig Stimmen geben, beeinflussen die Gesamtabrechnung weniger stark. Doch nach wie vor dürfen Länder nicht für den eigenen Teilnehmer stimmen – und das wird für Kandidaten aus bevölkerungsreichen Staaten wie Russland, Deutschland oder Frankreich sogar zu einem echten Nachteil. Sie können dann von Vornherein nicht so viele Punkte einheimsen wie Dänemark oder Malta, weil die höher gewichteten Punkte aus ihrer Heimat ja nur für andere Länder zählen. Zudem muss die Einwohnerzahl nicht zwingend mit der Zahl der Anrufer aus einem Land korrelieren – eigentlich müsste man aber die tatsächlich abgegebenen Stimmen zählen wie bei einer demokratischen Wahl.

Das ganze Verfahren zeigt damit vor allem eines: Wie schwierig es ist, ein faires Wahlverfahren zu finden. Vielleicht ist das ja auch der eigentliche Sinn des Eurovision Song Contest.

Tabelle der Punktzahlen offiziell und gewichtet

Rangfolge laut offizieller Statistik und Punkte gewichtet

Rangfolge laut offizieller Statistik und Punkte gewichtet

Die Daten zum ESC 2013 habe ich von der Webseite escchat.com entnommen, die Einwohnerzahlen der Länder stammen aus dem CIA World Factbook. Wer gern selbst mit den Zahlen spielen will: Hier ist die Excel-Datei ESC Punkte gewichtet zum Download.