Wer hat eigentlich den ESC 2014 entschieden?

Conchita Wurst hat den Eurovision Song Contest gewonnen. Der Travestiekünstler aus Österreich mit dem bürgerlichen Namen Tom Neuwirth bekam 290 Punkte. Platz 2 und 3 gingen an die The Common Linnets aus den Niederlanden (238 Punkte) und Sanna Nielsen aus Schweden (218 Punkte). Aber war das wirklich so ein klarer Sieg, wie ihn die Punktabstände suggerieren?

Viele Zuschauer wissen gar nicht, dass die Stimmvergabe eines Landes nur zum Teil übers Telefonvoting entschieden wird. In fast allen Ländern entscheidet eine fünfköpfige Jury mit – ihr Urteil und das Televote ergeben dann mit einer Gewichtung von je 50 Prozent das Gesamtvorting. Der ESC ist, wenn man so will, eine Mischung aus Demokratie und Expertokratie, denn die Jurys werden mit Vertretern aus der Musikbranche besetzt.

Natürlich sind Volkes Stimme und die Experten nicht immer einer Meinung. Beispiel Deutschland: Die Jury, in der unter anderem Jennifer Weist von der Band Jennifer Rostock und der Rapper Sido saßen, war von Conchita Wurst nur mäßig angetan. Im gemeinsamen Ranking der fünf Branchenvertreter kam sie nur auf Platz 11. Beim deutschen Televoting hingegen holte Conchita Wurst Platz 1. Beide Votes zusammen ergeben Platz 4 und damit 7 Punkte.

Da liegt natürlich die Frage nah: Wo hat Conchita Wurst eigentlich die meisten Unterstützer? Bei den Anrufern oder bei den Juryexperten? Und wie wäre der ESC ausgegangen, wenn allein das Televoting gezählt hätte? Und für wen hätten sich die Branchenvertreter aus den Jurys gemeinsam entschieden?

Die Ranglisten der Jurys und Telefonvotes sind auf der englischsprachigen ESC-Webseite komplett abrufbar – das Ganze lässt sich also leicht in Excel ausrechnen. Und das habe ich getan! 26 Titel waren im ESC-Finale, 37 Länder haben die Punkte vergeben. In Albanien und San Marino gab es kein Telefon-Vote, dort entschied allein eine Jury. In Georgien wiederum gab es nur ein Televoting. In den übrigen 34 Ländern entschieden Jury und Anrufer gemeinsam.

Den Berechnungen hier liegt der übliche ESC-Modus zugrunde: Jedes der 37 Länder vergibt insgesamt 58 Punkte, der Erstplatzierte bekommt 12 Punkte, der zweite 10, der dritte 8, der vierte 7, … und der zehnte 1 Punkt.

 

Hätten ausschließlich die Televotings beim ESC entschieden, wäre der Triumph von Conchita Wurst noch deutlicher ausgefallen. Sie hätte dann 306 Punkte erreicht – die Niederlande und Armenien würden mit 220 beziehungsweise 187 Punkte folgen. Schweden wäre auf Rang vier gelandet (173 Punkte) statt auf Platz 3 wie in der offiziellen Reihenfolge. Das gesamte Ranking finden Sie in der folgenden Tabelle (grüne Schrift):

ESC 2014

Hätten allein die Jurys über den ESC 2014 entschieden, wäre das Ergebnis zwar nicht anders, aber viel knapper ausgefallen – siehe rote Schrift. Österreich käme auf nur noch 214 Punkte, was aber immer noch für die Führung vor den Niederlanden (200 Punkte) und Schweden (199 Punkte) reicht.

Folgendes Diagramm zeigt die Platzierungen aus der Tabelle oben in Balkenform – nach den Modi Televote (grün), nur Jury rot) und Gesamt (grau). Gesamt entspricht der offiziellen ESC-Wertung. Die Länder sind nach dem Televote sortiert. Schön zu sehen ist, dass Länder wie Malta Aserbaidschan, Finnland und Norwegen zwar bei den Jurys gut punkteten – nicht aber bei den Anrufern.

ESC 2014 Punkte im Vergleich

Zum Schluss noch ein besonders spannender Blick auf die Punkte, die Österreich bekommen hat. Das Diagramm zeigt die von jedem Land an Österreich vergebenen Punkte in den Modi nur Jury und nur Televote (zum Vergrößern anklicken):

Conchita Wurst Jury vs. TelevoteBei vielen Ländern waren sich Anrufer und Experten weitgehend einig – die roten und blauen Balken sind ähnlich lang. Bei einem Drittel der Länder weicht Volkes Stimme jedoch deutlich vom Juryurteil ab – und zwar immer deutlich nach oben. Dazu gehören Portugal und Deutschland – aber auch viele ehemalige Ostblockstaaten wie Russland, Polen, Rumänien, Ungarn, Weißrussland und Polen.

Die eher geringe Toleranz in Osteuropa gegenüber Travestie und Homosexuellen spiegelt sich zwar im offiziellen Juryurteil wider – Österreich bekam dort kaum Punkte. Bei den Anrufern war Conchito Wurst hingegen populär. In Georgien und Armenien etwa holte sie  10 Punkte beim Televote, in Putins Russland immerhin 8 – von der Jury allein hätte das Lied keinen Punkt bekommen.

Vor diesem Hintergrund wirkt es besonders komisch, wenn nun russische Politiker vor dem Ende Europas warnen wie Wladimir Schirinowski. In Russland sammelte Conchita Wurst schließlich so viele Televotes ein, dass es auf Rang 3 (=8 Punkte) kam. Die namentlich bekannten russischen Jurymitglieder wählten Österreich auf Platz 11, weshalb es in der offiziellen russischen Gesamtwertung auf Platz 6 rutschte und nur 5 Punkte bekam.

Nachtrag: Wo die Fans „polnischer Folklore“ wohnen

Beim Spielen mit den Votes der Zuschauer und der Jurys ist mir noch das Kuriosium Polen aufgefallen. Ich fand den Beitrag „My Słowianie – We Are Slavic“ von Donatan und Cleo musikalisch eher dünn. Den Jury-Mitgliedern ging es offenbar ähnlich: Gerade mal in sechs Ländern schaffte er es im Expertenvote unter die Top-10 – und dabei auch nur auf die hinteren Ränge (blaue Balken im Diagramm unten). Die einzige Ausnahme bilden die deutschen Juroren, die Polen auf Platz 4 hievten, was 7 Punkten entsprechen würde, wenn allein das Voting der Jury über die Punkte entscheiden würde. (Diagramm zum Vergrößern anklicken)

ESC 2014 Polen

Ganz anders haben die Anrufer entschieden. In 12 Ländern schaffte es der polnische Song unter die ersten Top-3! Lag’s etwa an der üppigen Oberweite der Frau, die sich am Wäsche waschen mit der Hand versuchte? Hier die Länder, in denen Anrufer offenbar besonders auf „polnische Folklore“ stehen – sie liegen bis auf die Ukraine und Mazedonien sämtlich in Westeuropa:

Platz 1:
Ukraine, Irland, Norwegen, UK

Platz 2:
Island, Niederlande

Platz 3:
Deutschland, Italien, Österreich, Mazedonien, Frankreich, Schweden

Ähnlich auffällige Diskrepanzen gab es auch beim Beitrag aus der Schweiz. Das Lied punktete sehr oft bei den Zuschauern (rot), jedoch kaum bei den Jurys (blau).

ESC 2014 Schweiz

Wer einen Blick auf die Rohdaten werfen will – hier ist die Excel-Datei mit den Platzierungen aller Länder, aus denen sich die Punkte berechnen lassen: ESC 2014 Daten. Beim Juryurteil und dem Televote habe ich dem erstplatzierten Team 12 Punkte, dem zweiten 10, dem dritten 8, … und dem zehnten 1 Punkt gegeben. Zur Berechnung der offiziellen ESC-Wertung werden für jedes Land einzeln die Platzierungen von Jury und Televote addiert. Das Land mit der kleinsten Summe bekommt dann 12 Punkte, das mit der zweitkleinsten 10 und so weiter.  Ab Platz 11 gibt es 0 Punkte.